Ursachen für die Proteste
Was sind aber die Ursachen für die Proteste? Wofür demonstrieren die Studierenden konkret? Der Konflikt wurzelt gerade in der Zeit des Militärregimes, das dem blutigen Putsch Augusto Pinochets am 11. September 1973 folgte. Als Ergebnis der von der Junta-Regierung lancierten Politik der höchstmöglichen Subsidiarität des Staates dominieren private Träger bis heute das chilenische Bildungssystem, und zwar auf allen Ebenen. Beim Schulunterricht (Grund- und Sekundarstufe) fallen die chronisch unterfinanzierten öffentlichen Einrichtungen seit 1980 in den Zuständigkeitsbereich der Kommunen - sie bedienen lediglich den Bedarf der traditionell bildungsfernen Unterschichten. Versuchen die Eltern trotzdem, den sozialen Aufstieg ihrer Kinder mittels einer qualitativ hochwertigeren Beschulung zu fördern, müssen sie dann den größten Teil der Kosten selbst übernehmen, und diese erweisen sich im internationalen Vergleich als unverhältnismäßig hoch.
Wie gut die Ausbildung ist, die ein Kind erhält, hängt also in höchstem Maße von den finanziellen Möglichkeiten seiner Familie ab: Arme haben geringere Chancen als Reiche, und die Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten bleiben in radikal divergierenden Schulwelten unter sich. Eine Handvoll elitärer Privatschulen dient als Vernetzungsstätten für den Nachwuchs der Wohlhabendsten (und für die Wohlhabendsten selbst), während sich die breite Mehrheit der Gesellschaft bestenfalls mit staatlich teilsubventionierten colegios particulares, in der Regel aber mit desolaten städtischen Schulangeboten zufrieden geben muss.
Dasselbe Muster wie im Schulwesen wird bei den Universitäten konsequent fortgesetzt. Das 1981 vom Militärregime erlassene Hochschulgesetz förderte nicht nur die Zerschlagung der bestehenden staatlichen Universitäten sowie der Pädagogischen Hochschulen, die das Pinochet-Regime als Hort der linken Opposition betrachtete. Darüber hinaus ebnete es den Weg für die Etablierung neuartiger, profitorientierter Privathochschulen, die sich explizit der Rekrutierung systemkonformer Eliten zuwandten und ihren Bildungsauftrag im Geiste des damals herrschenden autoritären und neoliberalen Gedankenguts übernahmen. Eine herausragende Rolle haben in diesem Zusammenhang erzkonservative katholische Gruppierungen wie das Opus Dei und die Legionäre Christi gespielt. Auch wenn der gesetzliche Rahmen zumindest theoretisch eine volle Merkantilisierung ihrer Universitäten ausschließt, ist es den Eigentümern im Laufe der letzten 30 Jahre bestens gelungen, alternative Betriebsmodelle zu entwickeln, die den zentralen Stellenwert der Profitmaximierung im privaten Hochschulwesen kaschieren.
Die Ergänzung des Hauptgeschäfts "Bildung" durch Immobilienhandel oder Kreditwesen hat viele der knapp 40 chilenischen Privatuniversitäten in extrem lukrative Unternehmen verwandelt. Seit 1990 hat sich die Zahl der chilenischen Studenten insgesamt beinahe vervierfacht (886.884 im Jahre 2010). Neben den Privatuniversitäten verfügen die 25 in der chilenischen Rektorenkonferenz (CRUCH) zusammengeschlossenen "traditionellen" - d.h. vor 1981 gegründeten - Hochschulen über bessere Standards in der Forschung und eine größere internationale Vernetzung. Allerdings ist beiden Hochschultypen ein Finanzierungssystem gemein, das sowohl einen niedrigen staatlichen Beitrag (max. 25 bis 30 Prozent im Fall der "traditionellen" Universitäten) als auch die hohe Beanspruchung der Studierenden und ihrer Familien voraussetzt. Haupteinnahmequelle sind die Studiengebühren, deren Höhe weitgehend frei von jeder Universität festgelegt wird. Die Hochschulen betreiben ein aktives und aufwendiges Marketing im Wettbewerb um die zahlungskräftigeren Studierenden, ohne dass sich der Staat in regulierender Absicht wirksam einschalten darf.
Offener und transparenter Zugang zu Bildung
Trotz mancher Korrektur infolge vergangener Protestwellen (z.B. die Aufstockung der Studienkredite durch staatliche Garantien) geht es beim jetzigen Aufstand noch immer um die prinzipielle Fragwürdigkeit eines Modells vorwiegend kommerziell ausgerichteter Oberschulen und Universitäten. Die Studierenden verlangen eine Neugestaltung des Zugangs zur Bildung, der offener und transparenter werden soll. Zudem solle der Staat generell mehr Finanzmittel für die Bildung bereitstellen, nicht zuletzt für großzügigere Stipendienprogramme. Zurzeit müssen ca. 80 Prozent der Studierenden überteuerte Kredite aufnehmen. Falls sie ihren Abschluss nach meist vier oder fünf Jahren erreichen, ist es keineswegs garantiert, dass die erworbenen Qualifikationen ausreichend und vor allem geeignet für die spezifischen Anforderungen des chilenischen Arbeitsmarkts sind. Und im Fall einer schnellen Anstellung starten sie auf jeden Fall mit einem Berg Schulden ins Berufsleben.
Die Klärung der haushaltstechnischen Details dürfte relativ einfach sein, zieht man die insgesamt gute Wirtschaftslage des Landes in Betracht, und tatsächlich waren viele der von der Regierung vorgeschlagenen Kompromisse durchaus Schritte in die richtige Richtung. Aber dass, wie die Studenten hartnäckig fordern, nicht mehr der privatwirtschaftliche Gewinn ("lucro") bestimmendes Moment des Bildungswesens sein soll, wäre nur durch eine tiefgreifende Reform durchzusetzen, die der rechtsgerichteten, marktradikal gefärbten Regierung außerordentlich gegen den Strich geht. Es handelt sich letztlich um eine genuin ideologische Auseinandersetzung: eine neoliberale Politik in Reinkultur sieht sich mit der sozialdemokratisch-laizistischen Auffassung des Bildungswesens konfrontiert, die ausgerechnet von den Kindern des chilenischen Wirtschaftswunders befürwortet wird. Die Regierung spekuliert weiterhin auf die Verschärfung der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Protestbewegung sowie auf die kollektive Ermüdung einer seit jeher auf Sicherheit, Stabilität und Ordnung bedachten chilenischen Bevölkerung. Die Rektoren der Privathochschulen und die konservativen Medien bemühen sich ihrerseits darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Forderungen der Studierenden utopisch und nicht finanzierbar sind.
Umfragen zufolge betrachten aber knapp zwei Drittel der Chilenen die Proteste mit Sympathie, und deren Forderungen halten sogar vier Fünftel der Befragten nach wie vor für gerechtfertigt. Im Hintergrund steht das kumulierte Unbehagen angesichts der tiefen Ungleichheit einer Gesellschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten zwar wirtschaftlich stark entwickelt hat, aber nach wie vor sozial gespalten bleibt. Es bleibt abzuwarten, was die nächsten Wochen unmittelbar vor den Sommerferien ergeben, eines haben die jungen Protestierenden aber zweifellos erreicht: dass die Bildungsfrage zum Hauptgegenstand der chilenischen politischen Diskussion wird.
Über den Autor
Dr. Antonio Sáez-Arance arbeitet an der Iberischen und Lateinamerikanischen Abteilung des Historischen Instituts an der Universität zu Köln.