Notwendigkeit psychischer Verarbeitungsprozesse
Aber auch wenn Auswanderung heute eine überwiegend freiwillige, vorausplanbare und vielleicht sogar vorläufige Entscheidung zu sein scheint, bedeutet sie eine nicht weniger einschneidende Veränderung im Leben eines Menschen. Der Ortswechsel bewirkt eine Umstellung der Gewohnheiten, eine Trennung vom Freundes- und Familienkreis und den zeitweiligen Verlust von sozio-kultureller Kompetenz. So zwingen die neuen Lebensbedingungen zu multiplen Anpassungsleistungen an ein fremdes Gemeinwesen, eine unbekannte Kultur, in eine Situation ähnlich dem Welterleben eines Kleinkindes - nur dass der Mensch, der sich zeitweise so fühlt, ein in seinen alten Lebensumständen kompetenter Erwachsener ist.
Allgemein gesprochen ist die Auseinandersetzung mit neuen Erlebnissen ein Prozess der Integration von Neuem in den Fundus bereits durchlebter Erfahrungen. Diese kognitive und emotionale Integrationsleistung ist Voraussetzung für seelische Gesundheit, weil sie erst Autonomie, Identität und Handlungsfreiheit ermöglichen kann. Gerade in Übergangssituationen nach großen Veränderungen im Leben - wie nach einer Auswanderung - vollziehen sich diese Verarbeitungsprozesse ganz intensiv. Während dieser Übergänge sind Unsicherheit und das Gefühl von Kontrollverlust groß.
Als einschneidende Lebensveränderung birgt Auswanderung psychische Chancen und Risiken. Was die Psyche anbelangt liegen die Risiken in Enttäuschung, Rückzug, Angst, Depression und körperlichen Symptomen, die Chancen liegen in menschlichem Wachstum, Steigerung der Erlebnisfähigkeit, der emotionalen Sensibilität und der Beziehungs- und Konfliktfähigkeit. Die Ausnahmesituation, in die der Ausgewanderte gelangt, erfordert eine nicht zu unterschätzende psychische Verarbeitungsleistung.
Im Folgenden möchte ich an einigen Aspekten aufzeigen, was aus psychologischer Sicht sinnvoll zu tun ist, um Auswanderung zu einer menschlich bereichernden Erfahrung zu machen.
Motivforschung
So unterschiedlich die individuellen Push-Faktoren sein mögen, eine existentielle Notwendigkeit zur Auswanderung gibt es in unserem Kulturkreis nicht. Die Überzeugung von der Wohlüberlegtheit einer freiwilligen Entscheidung macht möglich, dass sich in den Weg stellende Widernisse im fremden Land nicht als so bedrohlich bewertet werden müssen. Schwankt die Entschlossenheit noch, macht der erste anhaltende Regen, oder die erste ernsthafte kritische Bemerkung am Arbeitsplatz unsicher. Eine besondere Schwierigkeit ist, dass die meisten mit Partner und Familie ausreisen, wobei der Initiator immer entschlossener ist als die anderen.
An dieser Stelle ist es notwendig, die Bedürfnisse aller Beteiligter genau zu erkunden, die zum Wunsch nach Auswanderung geführt haben. Man sollte sich auch selbstkritisch mit der Frage konfrontieren, ob eigenes Fehlverhalten zu Unzufriedenheit geführt hat. Eigene Schwächen werden am neuen Ort nicht auf wunderbare Weise verschwinden. Scheitern und Erfolg ist ein komplizierter Mix zwischen äußeren und inneren Faktoren. Wer gern die Schuld für Versagen im Außen sucht, wird im fremden Umfeld viele "objektive" Gründe dafür finden und sich so die Integration erschweren.
Gewohnheitsschutz
Mit der Motivationsforschung wäre schon ein wichtiger Schritt zur Vorbereitung auf die Übersiedlung getan. Wenn es jetzt um das Einholen von spannenden Informationen über das Zielland geht und die Phantasie weite Flüge in ein Land unbegrenzter zukünftiger Möglichkeiten unternimmt, sollten Auswanderungsbereite sich auch gedankliche Ausflüge in die eigene Lebensgeschichte erlauben, eingedenk der Goetheschen Weisheit, dass der Mensch Flügel und Wurzeln braucht. Sinnvoll ist, sich zu fragen: "Was bedeutet mir so viel, dass es unbedingt so bleiben soll, wie es ist?" Das gewählte Land soll ja nicht nur neue Möglichkeiten eröffnen, sondern auch liebgewordenen Gewohnheiten einen Raum bieten.