Nirenberg und Matthaei arbeiteten mit zellfreien Systemen, also mit einem Extrakt aus zerriebenen Bakterien, der die wesentlichen Zellbestandteile wie DNA, mRNA, Ribosomen, Enzyme enthält.3) Radioaktiv markierte Aminosäuren mussten damals die Proteinsynthese messbar machen, weil die in den Experimenten anfallenden Stoffmengen für konventionelle chemische Analysen nicht ausreichten. Im Reagenzglas gaben sie dem Extrakt mRNA, Aminosäuren und ATP zu, um die Proteinsynthese zu aktivieren. Das entstandene Protein fällten sie, filtrierten es ab und detektierten die radioaktive Strahlung. Nirenberg und Matthaei nutzten zunächst Valin als markierte Aminosäure; die Radioaktivität zeigte sich dann tatsächlich nach einiger Zeit im Säurepräzipitat. Nun behandelten die beiden dieses System weiter, indem sie Enzyme mit bekannter Wirkung zugaben: Ribonuklease (zerstört RNA) beendete die Proteinsynthese sofort, Desoxyribonuklease (zerstört DNA) erst nach einiger Inkubationszeit.
Demzufolge baut DNA die RNA auf: Nach der Zerstörung der DNA kann keine RNA mehr entstehen und die Proteinsynthese kommt allmählich zum Stillstand. Was lange nur eine Annahme war, belegten Nirenberg und Matthaei jetzt im Reagenzglas: RNA und nicht DNA ruft den Einbau von Aminosäuren in Proteine hervor. Durch Präinkubieren mit DNAase erzeugten sie ein zellfreies Testsystem, in dem zugesetzte RNA als Bote die Proteinsynthese bewirkt.
Das Poly-U-Experiment
Am 21. Mai 1961 - Nirenberg selbst war gerade für drei Wochen nach Kalifornien gereist - gab Matthaei RNA mit der Sequenz ...UUUU... zum Zellextrakt mit den zwanzig markierten Aminosäuren. Diese RNA, die nur aus Uracil als Nukleobase besteht, war einfach herzustellen und zu handhaben. Tatsächlich wurden dadurch Aminosäuren in Proteine eingebaut. Aber welche? Um herauszufinden, welche Aminosäuren dadurch zu einem Protein aneinander gehängt werden, musste Matthaei in verschiedenen Reaktionsansätzen alle zwanzig Aminosäuren zunächst in Gruppen, zuletzt einzeln durchtesten. Am 27. Mai um 3 Uhr morgens begann die letzte Testreihe. Danach stand fest: Ein oder mehrere U bilden den Code für Phenylalanin.
Das erste Wort des genetischen Codes war entschlüsselt. Zuerst musste aber das Polyphenylalanin noch zweifelsfrei charakterisiert werden. Nirenberg - wieder zurück von seiner Reise - übernahm das Experiment. Für Matthaei war es bitter, dass nicht er diesen Beweis führen durfte, obwohl er bereits das Polyphenylalanin für die Analyse vorbereitet hatte. Einige Jahre später erzählte er: "Das hat mich gekränkt, [...] er hätte es ein bisschen netter machen können. Von da an war unsere Freundschaft leider schwer angeschlagen, es hat Marshall sehr verdrossen, dass ich das Glück hatte, dieses schöne Experiment zu machen".4)
Auf jeden Fall war nun klar, wie der genetische Code funktioniert. Nirenberg und Matthaei schrieben in ihrer Veröffentlichung in den Proceedings of the National Academy of Sciences: "Poly-U scheint als künstliche Matrize oder mRNA zu dienen, und dieses stabile, zellfreie System aus E. coli könnte vermutlich genauso jedes andere Protein herstellen, je nachdem, welche Information in der zugesetzten RNA enthalten ist."5)
Innerhalb weniger Jahre waren dann alle Codons zugeordnet und der Code entschlüsselt - einschließlich der drei Stopp-Codons, welche die jeweilige Proteinsynthese beenden. Im Jahr 1968 ging der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin an Nirenberg und außerdem an Har Gobind Khorana, der mit seinen Methoden zur RNA-Synthese einen Großteil des Codes aufklären half, sowie an Robert Holley, der die erste Sequenz einer tRNA aufklärte und darin das Anti-Codon fand. Matthaei kehrte nach Ablauf seines Stipendiums 1962 nach Deutschland zurück. Mit seinen Arbeitsgruppen entzifferte er in Tübingen und Göttingen - zeitgleich und unabhängig von Nirenberg und Khorana - den gesamten genetischen Code. Seine Ergebnisse stellte er u. a. beim Cold Spring Harbor Symposium 1966 vor, welches den Abschluss der Code-Entzifferung markiert.6)
Variabilität des Genetischen Codes
Zunächst erscheint die Zuordnung von Basen-Tripletts zu Aminosäuren recht wahllos und zufällig. Legt man die physikochemischen Eigenschaften der Aminosäuren zugrunde, zeigt sich aber, dass die synonymen Codons jeweils einer Aminosäure nach dem Prinzip "ähnliche Codons für ähnliche Aminosäuren" in Blöcken gruppiert sind. Codons, die sich in nur einer Base unterscheiden, codieren demnach für gleiche oder ähnliche Aminosäuren. Punktmutationen und Translationsfehler haben in einem Code, der nach dem Prinzip "ähnliche Codons für ähnliche Aminosäuren" aufgebaut ist, nur geringe Auswirkungen auf das Protein, insbesondere auf dessen räumliche Struktur. Weitere Überlegungen zeigen, dass "unser" genetischer Code neben seiner Fehlertoleranz auch für die molekulare Evolution besonders gut geeignet ist. Es lässt sich sogar argumentieren, dass dieser Code gut zur Doppelstrangcodierung in der DNA passt.7)
Der genetische Code gilt universell für alle Lebewesen. Allerdings kennt man heute einige Abweichungen. Sie zeigen, dass eine Veränderung von Zuordnungen der Tripletts zu Aminosäuren prinzipiell möglich ist. Die erste Abwandlung vom kanonischen Code in Zellkernen wurde Mitte der 1980er Jahre entdeckt: Eine Erweiterung des Codes um die Aminosäure Selenocystein. Das UGA-Codon, das eigentlich ein Haltesignal ist und die Translation während der Proteinsynthese beendet, steht hier für die "21. Aminosäure". Auch die im Jahr 2002 im Code entdeckte "22. Aminosäure" Pyrrolysin (ein modifiziertes Lysinmolekül) wird in bestimmten Archaebakterien durch ein das UAG-Codon codiert, das normalerweise für "Stopp" steht.
Ausblick synthetische Biologie
Dass der Code durchaus variabel ist, nutzen Wissenschaftler heute, um den genetischen Code künstlich zu erweitern, also über die 20 Standardaminosäuren hinaus noch weitere Aminosäuren zu codieren (Abbildung 3, S. 524). Dazu machen sie sich zunutze, dass Lebewesen zwar im Wesentlichen denselben genetischen Code verwenden, sich aber manchmal in den ihn übersetzenden Molekülen (insbesondere den t-RNAs) unterscheiden. Die Strategie, mit gentechnischen Methoden t-RNAs zwischen Organismen auszutauschen, wurde erstmals in den 1990er Jahren angewandt.8)
Die Entschlüsselung des genetischen Codes in den 1960er Jahren steht mithin nicht nur im Zentrum der Molekularbiologie, sondern verbindet ebenso die Evolution des Lebens mit aktuellen Ansätzen der synthetischen Biologie.
Literatur
- vgl. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, Suhrkamp, Frankfurt/M., 2005.
- Matthaei zit. n. H. Judson. Der 8. Tag der Schöpfung, Meyster Verlag, Wien/München, 1980, S.348.
- vgl. H. J. Rheinberger, Experimental - systeme und epistemische Dinge, Wallstein-Verlag, Göttingen, 2002.
- Heinrich Matthaei im Gespräch, in: Deutsches Museum Bonn - Forschung und Technik in Deutschland nach 1945 (Hrsg.: P. Frieß und P.M. Steiner), Deutsches Kunstverlag, München, 1995, S. 245.
- M. W. Nirenberg, J. H.Matthaei, Proc. Natl. Acad. Sci. USA 1961, 47, 1601. 6) Cold Spring Harbor Symposium, Vol. XXXI, 1966, S. 25-38.
- vgl. M.-D. Weitze, Biol. unserer Zeit 2006, 36, 18-25.
- N. Budisa, M.-D. Weitze, Spektrum der Wissenschaft, Januar 2009, S. 42-50
Über den Autor
Marc-Denis Weitze arbeitet nach mehrjähriger Tätigkeit am Deutschen Museum seit dem Jahr 2007 als wissenschaftlicher Referent in der Geschäftsstelle der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (Acatech). Email: weitze@gmx.net