Vorlesungen - im Gehäuse der Hörigkeit?
Max Weber hat den Begriff "Gehäuse der Hörigkeit" durch die strukturelle, vor allem bürokratische Steuerung der personellen Verhaltensregulationen in Organisationen und Gesellschaft definiert: Müssen ersetzt Wollen, Zwänge ersetzen freiheitsstiftende Privilegien. Die Universitäts- und Bildungspolitik, deren Protagonisten in den 60er und 70er Jahren ein wenig reguliertes Studium absolvierten, hat inzwischen einen Paradigmenwechsel im universitären Selbstverständnis vollzogen: Nicht Freiheit und intrinsische Motive, so deren Überzeugung, trieben Lehrende und Lernende an, zum Erkenntnisfortschritt beizutragen, sondern extrinsische Motive, ökonomische Anreizsysteme und die Kontrolle abrechenbarer Leistungen.
Die neuen Anreizsysteme wirken allerdings nur, wenn die "alten" Freiheiten, bei den Lehrenden deren sozioökonomisch und arbeitsorganisatorisch herausgehobene Position und bei den Lernenden die Privilegierung ihrer Bildungslaufbahn durch Handlungsentlastung und Selbstbestimmung minimiert werden. Die Universitäten vertrauen demnach ihren Studierenden und ihren Professorinnen und Professoren nicht mehr. Wie soll es dann gelingen, dass diese beiden Gruppen sich gegenseitig vertrauen und anerkennen? Den Hörsaal und die Seminare bevölkerten, so beschrieb Karl Otto Hondrich einen neuen Typus von Studenten, die "Auch-Studenten", die Teilzeit studieren, bereits fest erwerbstätig sind oder jobben, Familienverpflichtungen haben und vieles andere, was sie vom Studium abhält. Heutzutage sind die "Auch-Studenten" noch halbe Schüler mit Defiziten in der Hochschulreife. Ihnen stehen "Auch-Professoren" gegenüber, die ihre Hochschullehrer- und Forscherrollen mit Funktionen des Gymnasiallehrers, aber zudem in den arbeitsteilig schwach differenzierten Universitäten, mit Funktionen des Managers, des Netzwerkers, des Drittmitteleinwerbers, des Forschungsreisenden, des Gutachters, des Beraters kombinieren, ergänzt durch Tätigkeiten innerhalb der akademischen Selbstverwaltung.
Wie finden nun beide Gruppen, Studierende und Lehrende, zueinander? Der Zwang, die bei knapper Personaldecke alternativlos angebotenen Vorlesungen zu belegen und Prüfungen abzulegen, erzeugt bei vielen Studierenden Aggressionen. Für die Professoren ist es ungemein schwierig, den Wissensstand, den sie für geboten halten, mit der Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit ihres Publikums in Übereinstimmung zu bringen. Am Ende der Veranstaltung drohen ihnen die vernichtenden Beurteilungen der anonym ausgefüllten Evaluationsbögen. Der professorale Habitus der Autorität wirkt unangenehm und fremd. Viele Studierende reagieren mit einem zur Schau gestellten Machtbewusstsein, das ihnen der Besitz ihres Smartphones verleiht und die Möglichkeit, sich darüber selbst am vorhandenen Wissen zu bedienen. Sie würden digitales Lernen bevorzugen. Für sie haben Professoren als besondere Träger eines authentischen Wissens ausgespielt, auch wenn der Konsum des digitalisierten Wissens nicht selbstverständlich zur kreativ-produktiven Verarbeitung führt, wie sie an Universitäten üblich sein sollte.
Im Gegenteil: Die Verarbeitungs- und Aufmerksamkeitsspannen im Hörsaal sinken rapide. Es ist schwierig geworden, in einer kognitiv anspruchsvollen Vorlesung die Konzentration der Zuhörenden zu behalten, etwa für einen Vortrag, in welchem der Vortragende sein Ethikverständnis über das Referat der Kritik Hegels am Moralbegriff von Immanuel Kant herleitet; über fast zwei Jahrhunderte ein gängiges Vorgehen in der Vorlesung. Auf drei Ebenen der Gedankenbewegung (der Interpretation des Vortragenden, der Auffassung Hegels und der Kants) zu folgen, stellt eine kaum zu bewältigende Anforderung dar.
Hinzu kommt: Wer heutzutage über Karl Marx liest, muss damit rechnen, von Zuhörern als "Marxist" oder als "Reaktionär" im Netz abqualifiziert zu werden. Klausurzwänge, Evaluationen, Anwesenheitslisten, modularisierte Studienordnungen etablieren einerseits ein bürokratisches Kontrollregime bis hinein in den Ablauf von Vorlesungen, andererseits sprengen unkontrollierbare digitale Mitschnitte den Schutzraum Hörsaal. An der ehrwürdigen Humboldt-Universität zu Berlin wurden jüngst die Vorlesungen des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler im Netz "aufgezeichnet, seziert, kritisiert" und sein Sprachgebrauch als "gesinnungsschnüfflerisch" (Mona Jaeger) abqualifiziert. Das sind Anzeichen einer neuen Studentenbewegung, aber wohin führt sie? Der Hörsaal als Ort der Vernunft und Reflexionsfähigkeit wird negiert. Für die Lehrenden wird es zum Risiko, sich im Hörsaal persönlich auszusetzen und ihren Weg zur Wahrheit zu Gehör zu bringen. Am Ende dieser Entwicklung werden Lernbegleiter ohne Herz stehen, Lernfabriken ohne Geist.
Eine Universität ohne Vorlesung ist möglich, aber sinnlos
Universitäten sind die Berufsschulen der Wissensgesellschaft. In der Berufswelt wird die Fähigkeit, Wissen zu verarbeiten, auf allen Ebenen der beruflichen Hierarchien verlangt. Diese Kompetenz vermitteln die Universitäten. Viele Studierende möchten vor allem berufsqualifizierend ausgebildet werden, die wissenschaftliche Vertiefung ist Nebensache. Sie interessiert, wie etwas in der realen Welt funktioniert, nicht, was diese Welt "im Innersten zusammenhält". In Vorlesungen würden sie, wie heutzutage schon an Fachhochschulen üblich, von praxisbezogenen Vorlesungen, Seminaren, Internet-Kursen, Projekt- und Gruppenarbeiten, am meisten profitieren. Der Ausbau dualer Studiengänge, möglichst berufsbegleitend, an öffentlichen Universitäten käme daher vielen Erwartungen seitens der Politik, der Wirtschaft, der kommunalen Akteure, nicht zuletzt der Studierenden entgegen. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Auseinandersetzung mit dem Wissen selbst, mit seiner Genese und Geltung, bedeutungslos wird und an Exklusivität verliert.
Derzeit wird an den meisten Universitäten dieses eigentliche Kerngeschäft verdrängt. Der traditionelle und erweiterte Kanon der jeweiligen Fächer verschwindet zusehends. Daher bedarf es ausdifferenzierter eigener Studiengänge, die zur wissenschaftlichen Forschung qualifizieren. Sie könnten als Aufbaustudium, als eigene Einheit innerhalb größerer Universitäten oder als neugegründete (vielleicht wie seit alters her genossenschaftliche) Universitäten, angeboten werden. Ohne Eingangsgespräche wird es bei der Aufnahme der Studierenden nicht gehen. In solchen (Exzellenz-)Studiengängen gewinnt die traditionelle Vorlesung mit ihren scholastischen und argumentativen Methoden wieder ihren festen Platz. Hier können Lehrende in der Vorlesung in die Tiefe gehen und Neuland betreten. Auf lange Zeit wird zu dieser Leistung kein Computer fähig sein. In der Vorlesung und im anschließenden dazugehörigen Seminar steht der Professor seinen Studierenden Rede und Antwort. Danach wird gemeinsam gegessen.
Eine Langfassung des Beitrages zur Geschichte der Vorlesung mit Literaturangaben kann bei der Redaktion von Forschung & Lehre angefordert werden.
Über die Autorin
Christiane Bender ist Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.