Dr. Lara Urban über planetare Gesundheit und Diversität in der Wissenschaft
Das große Ganze, genomisiert

Nachwuchswissenschaftlerin Lara Urban im Porträt

Dr. Lara Urban © privat

Dr. Lara Urban ist Forschungsgruppenleiterin am Münchner Helmholtz AI und Helmholtz Pioneer Campus – und sie ist die academics Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres 2022. Im Interview erzählt sie, was für sie Diversität in der Wissenschaft bedeutet, wie Disney-Tierfilme sie prägten und wie sie mit Hilfe von KI und neuen genomischen Techniken die planetare Gesundheit erforscht. 

Veröffentlicht: 02.05.2023

Von: Maike Schade

academics:Lara, kannst du kurz erklären, was planetare Gesundheit eigentlich ist?  
Dr. Lara Urban: Planetare Gesundheit beschreibt, dass die Gesundheit von allen Lebewesen und Ökosystemen auf unserer Erde miteinander in Verbindung stehen. Also die Gesundheit von Menschen, von Pflanzen, von Tieren, von Mikroorganismen, aber auch zum Beispiel von Frischwassersystemen.  

Das ist ein ziemlich umfassender Bereich. Was genau untersuchst du beziehungsweise deine Forschungsgruppe?  
Meine Gruppe fokussiert speziell darauf, wie wir neuartige genomische Technologien anwenden können, um diese Zusammenhänge besser zu verstehen. Wir untersuchen genomische Daten beispielsweise von Ökosystemen oder bedrohten Tierarten, und suchen dann nach Zusammenhängen zwischen deren Gesundheit und anthropogenen Einflüssen.  

Was heißt das?  
Zum Beispiel untersuchen wir, welchen Einfluss die Biodiversität auf die menschliche Gesundheit hat. Oder welchen Einfluss der vom Menschen herbeigeführte Klimawandel auf die Diversität von Mikroorganismen hat, die dann möglicherweise gewisse metabolische Eigenschaften nicht mehr einhalten können und dann auch wieder einen negativen Einfluss auf den Menschen haben können – zum Beispiel über mikrobiologische Resistenzen. Unser Fokus ist hier wie gesagt die Entwicklung neuer Technologien und die Analyse entstehender Daten. 

Wie sehen diese Technologien aus? 
Das Neue daran ist, dass sie sehr schnell und auch vor Ort einsetzbar sind. Wir verwenden ganz kleine Sequenziermaschinen, die wir überall mit hinnehmen können und wir versuchen, den Sequenziervorgang so weit als möglich zu automatisieren – sodass wir bei der Feldarbeit eine Wasserprobe, eine Erdprobe, eine Luftprobe oder auch eine Probe von einer bedrohten Tierart nehmen können, dann direkt vor Ort die genomischen Daten kriegen und diese dann verwenden können, um gewisse Vorhersagen über die Gesundheit dieses Ökosystems zu machen.  

Wie muss ich mir das konkret vorstellen, diese Feldarbeit? Geht ihr in Unterhaching auf ein Feld und schaut dann, wie sich die Düngemittel der Bauern auf eine Maus auswirken?  
Nein, die Feldarbeit findet nicht in Deutschland statt. Ich bin erst seit einem Jahr (2022, Anm. d. Red.) in München, vorher habe ich sehr international in vielen Ländern gearbeitet – in Gegenden mit sehr hoher Biodiversität, wo häufig bislang auch nur wenige strenge Regeln zum Schutz der Natur in Kraft sind.  

Wo denn? 
Zuletzt, für meinen Postdoc, war ich in Neuseeland, wo der Biodiversitätsschutz sehr, sehr gut funktioniert, aber wo nicht im Detail bekannt ist, inwieweit sich der Druck, den der Mensch auf die Natur ausgeübt hat, sich weiterhin auf die Erholung bedrohter Tierarten und Ökosystemen auswirkt. Wir wissen: Das sind bedrohte Tierarten, da sind nur noch ganz wenige Individuen übrig. Aber wir wissen nicht, inwieweit die sich wieder erholen können, wenn wir sie schützen, oder ob sie auch schon auf dem genomischen Level die Diversität verloren haben.  

Die genomische Diversität verloren – das heißt, sie können sich nicht mehr paaren, weil sie sich zu ähnlich sind? Also praktisch Inzest wie bei Brüderlein und Schwesterlein? 
Genau. Natürlich können sie sich oftmals noch paaren, aber es kommt dabei nichts Gutes heraus – was man beim Menschen ja auch hätte, wenn sich zum Beispiel Bruder und Schwester fortpflanzen würden. Die Individuen sind teilweise dann überhaupt nicht lebensfähig und sterben schon als Embryonen ab. Und selbst wenn sie überleben, können sie sich dann entweder nicht fortpflanzen oder sind einfach nicht fit. Und solche Sachen sehen wir nicht, wenn wir einfach nur zählen, wie viele Individuen übrig sind. Dafür müssen wir aufs genomische Level gucken.  

Welche Tierarten hast du in Neuseeland untersucht?  
Zum Beispiel die beiden flugunfähigen Vogelarten Kākāpō und Takahē, und eine reptilienartige Tierart namens Tuatara. Und den Māui-Delfin, von dem es nur noch weniger als 60 Individuen auf der ganzen Welt gibt.

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Du bist mit Delfinen geschwommen und hast von denen eine Blutprobe genommen?  
Nicht wirklich! Gerade wenn die Tierarten bedroht sind, ist es wichtig, dass wir sie nicht stressen. Deshalb machen wir viel auf dem Level des nicht-invasiven Monitorings. Die DNA von allen Lebewesen wird ja ständig in die Umwelt hinausgetragen. Wir verlieren beispielsweise Hautschuppen, wir haben die Fäkalien und den Urin von wilden Tieren und so weiter. Wir müssen das Tier nicht einfangen, um eine Probe zu bekommen – und können so zusätzlich auch noch etwas über die mikroorganismische Diversität dieser Ökosysteme herausfinden. Das ist etwas, das lange Zeit übersehen wurde, weil wir viele Mikroorganismen ja einfach nicht sehen können.  

Hast du ein konkretes Beispiel? 
Wir haben beispielweise eine fungale Infektion untersucht, die den bedrohten Kākāpō-Papagei befällt. Da wir Sequenziermethoden verwenden, die tragbar und schnell sind, konnten wir direkt vor Ort sagen, ob ein Kākāpō-Individuum beeinträchtigt war oder nicht. Wir haben Speichelproben genommen, die DNA daraus extrahiert und in die Sequenziermaschine gegeben. In Wirklichkeit ist es natürlich ein bisschen schwieriger, als es sich jetzt anhört, aber innerhalb von zwei Stunden konnten wir herausfinden, welche DNA in dieser Probe drin war – ob überhaupt fungale DNA, ob sie von dem spezifischen Pilzerreger stammt, und ob Individuen, die einen besonders schweren Verlauf hatten, eine gewisse mutierte Variante hatten.  

Lara Urban lässt einen neuseeländischen Papagei frei

Lara Urban beim Feldeinsatz in Neuseeland © privat

Wenn ich Infektion, Mutation und schwere Verläufe höre, denke ich an Covid. Wenn ihr in der Forschung schon zehn Jahre weiter gewesen wärt – hättet ihr dann quasi schon früh warnen und die Pandemie eindämmen oder sogar verhindern können?  
Das ist eine sehr gute Frage. Dadurch, dass man auf diese nicht-invasive Weise monitort, zum Beispiel Luft oder Wasser, kann man schnell neue Pathogene finden, die sich schnell verbreiten, die also zum Beispiel an dem einen Tag auf einem Flughafen in Asien vorkommen und zwei Tage später in Südamerika und drei Tage später in Europa. Man könnte Netzwerke bilden, die einem zeigen: Wie verbreiten sich diese Pathogene denn speziell? Das Problem, wenn wir über Pandemien sprechen, ist, dass wir immer noch nicht wissen, was das nächste Pathogen sein wird, das verantwortlich sein wird für eine Pandemie. Jetzt bei Covid war es ja auch nur ein Coronavirus, das in Wildtierarten sehr häufig vorkommt und jetzt auf den Menschen übergesprungen ist. Und das kann natürlich jederzeit und überall auf der Welt passieren. 

Und, was ist eure Lösung?  
Um eine ganz futuristische Idee zu haben: Wir könnten ein kleines Gerät entwickeln, das man überall hinhängen kann, das ständig Luft filtriert, automatisch direkt die Sequenzierung durchführen kann und uns eine Warnung gibt, wenn potenzielle neue Pathogene entdeckt werden. Solche Geräte könnten überall aufgehängt werden, wo sich viele Leute aufhalten, zum Beispiel an Flughäfen. Oder an Orten, wo es sehr wichtig ist für die humane Gesundheit, zum Beispiel in Krankenhäusern, oder auch im agrikulturellen Bereichen, wo es für die Nahrungsmittelsicherheit für die komplette Bevölkerung wichtig ist.  

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Woran hakt es noch? 
Hierfür braucht es noch einiges an Forschung, sowohl im technologischen Bereich – wie können wir das alles automatisieren – als auch im computerbasierten Bereich, weil wir natürlich auch vorhersagen können müssen, ob ein Organismus auch tatsächlich gefährlich sein wird. Die andere Frage ist natürlich eine soziale und ethische: Inwieweit können wir ständig alle DNA, die herumschwirrt, sequenzieren? Das beinhaltet natürlich auch unsere eigene DNA, aus der man sehr viel ablesen kann – woher wir kommen, was unsere Eigenschaften sind und so weiter.  

Und weil es diese verschiedenen Aspekte gibt, ist deine Forschungsgruppe sowohl am Helmholtz AI als auch dem Helmholtz Pioneer Campus angesiedelt?  
Ja, genau. Hauptsächlich sind wir am Helmholtz AI angesiedelt, wo wir daran arbeiten, große genomischen Datenmengen zu analysieren und neue Programme zu entwickeln, um diese der Community dann auch zur Verfügung zu stellen. Und zwar für eine robuste Analyse, sodass wir tatsächlich Vorhersagen machen können eben beispielsweise über die Virulenz eine Pathogens oder den Grad der Bedrohtheit einer Tierart.

Wir verstehen nämlich noch relativ wenig, was denn wirklich notwendig ist, um zum Beispiel ein Pathogen besonders virulent oder eine Tierart anfällig zu machen fürs Aussterben – weil wir einfach so viel Variabilität haben, dass es ganz schwer ist, das zu generalisieren. Aber das bräuchten wir natürlich, wenn wir solche Sachen automatisiert vorhersagen möchten. Zusätzlich sind wir aber auch beim Pionier Campus angesiedelt, wo wir unser eigenes Labor haben und Daten selbst erzeugen – da fangen wir jetzt auch langsam an, auf dieser Automatisierungsebene zu arbeiten.  

Was heißt, ihr erzeugt die Daten selbst?  
Wir nehmen DNA-Daten von Luft oder von Wasser oder von bedrohten Tierarten und analysieren diese dann auch gleich danach. Man muss zwar noch viel manuell selbst machen, aber der Vorgang ist schon deutlich simplifiziert, sodass eine Person es relativ schnell lernen könnte, wenn sie das wollte. Ich denke da vor allem an Naturschützer im Feld, die damit Naturschutz-Fragen beantworten könnten, aber auch natürlich an Ärzte im Krankenhaus. Wir arbeiten ganz eng mit dem TUM-Klinikum (Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, Anm. d. Red.) und auch Krankenhäusern in Zimbabwe zusammen, um die Sequenziermethoden direkt dorthin zu bringen, damit die Daten dort in kürzester Zeit zur Verfügung stehen.  

Dr. Lara Urban, academics Nachwuchswissenschaftlerin 2022, im Porträt

Wie analysiert ihr denn Luft auf der genomischen Ebene?  
Wir haben da verschiedene Projekte am Laufen. Zum einen haben wir ein Filtrierungsgerät, das die Luft aktiv filtriert, und zwar 300 Liter pro Minute. Von diesen Proben extrahieren wir dann alle DNA, die in der Luft drin war. Hauptsächlich sind das Mikroorganismen und Sporen von Pilzen, aber natürlich findet man auch immer DNA von Tieren, Pflanzen – und deshalb natürlich auch Menschen. Um hierbei nicht irgendwelche ethischen Probleme zu bekommen, ignorieren wir einfach die humane DNA in den Proben.

Gleichzeitig ist das natürlich auch eine Methode zu sagen: Hey, ich schaue mir nicht nur die Mikroorganismen an, sondern ich schaue auch, was für Tiere und Pflanzen hier vorkommen. Da machen wir gerade ganz viele Pilotprojekte, um rauszufinden, was funktioniert und was nicht, um es langfristig dann in Gegenden anzuwenden, wo es wirklich wichtig ist für den Biodiversitätsschutz. Wo es wichtig ist zu wissen: Wie ist die Biodiversität dieses Ökosystems und wie wird es beeinflusst vom Menschen? 

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Und diese sehr biodiversen Gebiete eignen sich besonders gut, weil hier bei uns sowieso schon alles kaputt ist?  
Ich würde noch nicht einmal sagen, dass bei uns so viel kaputt ist. Es gibt gute Stücke an Wäldern, wenn auch nicht mehr die ursprünglichen Wälder, die es vor einigen Jahrhunderten gab. Aber ich denke, dass Natur relativ schnell zurückkommen kann. Und ich glaube, in Deutschland geben wir zumindest an einigen Orten der Natur Platz, sich wieder auszudehnen.  

Wie wohltuend, gerade dich das sagen zu hören. Gefühlt wird es immer, immer schlimmer. Deswegen ist es schön, wenn du sagst: Doch, wir haben noch eine Chance.  
Ja, doch. Auch durch internationale Efforts, den Naturschutz voranzutreiben, vor allem durch die UN und die IUCN, wird es jedem bewusster, dass Biodiversität wichtig ist und dass diese von wilden und natürlichen Ökosystemen abhängt. Das Agreement, das letztes Jahr auf der UN COP 15 beschlossen wurde, dass große Bereiche auf der Welt als Naturschutzgebiete ausgezeichnet werden müssen, ist sehr vielversprechend. Natürlich müssen wir schauen, wie die politische Realität dann am Schluss ausschaut. Aber ich glaube, das Bewusstsein zu haben, dass wir nicht das Recht haben, uns überallhin auszudehnen, war sehr, sehr wichtig.  

Und ich behalte eh immer die Hoffnung. Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, dann wäre es sowieso nicht mehr der richtige Platz für mich, in der Wissenschaft zu arbeiten. Ich bin auch deswegen hoffnungsvoll, weil ich sehe, dass die jungen Leute sich dafür engagieren, siehe zum Beispiel Fridays for Future. Als ich in dem Alter war, wurde ich wohl eher als die verrückte grüne Aktivistin gesehen, weil ich mich dafür eingesetzt habe. Und heute? Wow! Es scheint ja die Mehrheit zu sein. Ich habe die Hoffnung, dass die jungen Menschen es besser machen werden.  

Das heißt, du wolltest schon als Jugendliche in den Umweltschutz und die Wissenschaft gehen?  
Ja, seit sehr, sehr langer Zeit. Seit ich auf dem Lande gesehen aufgewachsen bin und meinen ersten Disney-Tierfilm gesehen habe, wurde es für mich unverständlich, wie wir als Menschen Tiere oder die Natur anders behandeln können. Für mich war die Menschheit immer ein bisschen unverständlich, als ich jung war: Wie wir einfach kein Interesse an dem Wohlergehen anderer Organismen zu haben scheinen. Ich dachte: Hey, da ist etwas, das ich in meinem Leben ändern möchte.  

„ Wenn ich keine Hoffnung mehr hätte, dann wäre es sowieso nicht mehr der richtige Platz für mich, in der Wissenschaft zu arbeiten.“

Dr. Lara Urban

Genomische Technologien zu entwickeln wäre nicht das Erste, was mir dazu einfällt....  
Ich dachte ursprünglich, dass ich in die politische Richtung gehen würde. Ich habe mit 15 Jahren ein Frühstudium der Politik an der Uni in Würzburg angefangen und dann aber gesehen, dass Politik sehr theoretisch ist. Ich bin auch der SPD beigetreten, aber auch das wir mir oft zu theoretisch und auch zu ineffizient. Zu viele Diskussionen über Sachen, an denen ich nicht interessiert war.

Dass ich Biologie zu studieren angefangen habe, war eher zufällig. Ich dachte, das verbindet viel – die Naturforschung mit Mathematik und Statistik, was mir immer sehr gefallen hat. Ich wusste bis dahin überhaupt nichts vom Wissenschaftssystem, dass man Wissenschaftler werden kann, weil ich in einer Familie aufgewachsen bin, in der solche Art von Jobs keine echte Realität waren.  

Jetzt bist du Wissenschaftlerin, und eine sehr erfolgreiche noch dazu. Ist das für dich langfristig noh der Traumjob angesichts der schwierigen Arbeitsbedingungen im akademischen Mittelbau?  
Ja, auf jeden Fall. Das ist genau das, was ich machen möchte. Ich hatte wahnsinniges Glück, dass ich diesen Karrierepfad gefunden habe. Dadurch, dass ich jetzt meine Arbeitsgruppe habe, ist das auch noch besser geworden. Und das wissenschaftliche Netzwerk, das ich habe, ist genial. Ich bin mit vielen meiner Kollegen befreundet, und es macht einfach so viel Spaß. Genau dieser Aspekt aber, dass es Spaß macht, wird oftmals von Arbeitgebern damit verwechselt, dass man beispielsweise so viel mehr arbeiten sollte, weil man ja sowieso so ein gutes Leben damit hat. Ich glaube, das ist die komplett falsche Perspektive.  

Der Spaß am Job ist das Problem?  
Ich glaube, in Deutschland ist das Problem, dass Arbeit hier generell als etwas aufgefasst wird, an dem iman sich wirklich abarbeiten muss – dass ich das Gefühl haben muss, erschöpft zu sein und etwas zu machen, das mir eigentlich nicht gefällt. Und da Wissenschaftler oftmals zeigen, wie sehr ihnen ihre Arbeit gefällt, wird diese dann nicht wirklich wertgeschätzt. Darin sehe ich ein großes Risiko.  

Im Ausland lässt es sich als Wissenschaftler:in also besser arbeiten?  
Ja, beispielsweise in England habe ich einen großen Unterschied gefühlt. Ich habe da meinen Doktor gemacht – gut, ich war auch an der Cambridge Universität, die natürlich sehr gut finanziert ist –, aber da war alles so viel effizienter und leichter, gewisse Sachen durchzusetzen. Ich glaube, Deutschland muss sich da ein bisschen zusammenreißen. 

Was muss sich ändern, gerade auch beim Wissenschaftszeitvertragsgesetz?  
Ganz ehrlich: Ich kenne mich noch nicht so gut im deutschen Wissenschaftssystem aus. Ich glaube aber, dass viele Wissenschaftler im deutschen System hier gute Ideen habe – und vieles hat natürlich mit einer guten und sicheren Finanzierung zu tun, als auch mit einer fairen und nicht-simplifizierten Wissenschaftsevaluation. 

Und wie empfindest du die Situation für dich als Frau im Wissenschaftsbetrieb?  
Je älter ich werde, desto mehr bemerke ich, wie sexistisch unsere Welt noch ist. Es muss noch nicht einmal bösartiger Sexismus sein, sondern einfach die Tatsache, dass ich als Frau anders behandelt werde als Männer. Und wenn es nur um vermeintlich positive Sachen geht, dass beispielsweise etwas Schweres für mich getragen werden muss oder ähnliches. Gleichzeitig haben wir auch noch diese alten Strukturen: Dass viele der älteren Professoren weiße Männer sind, was dazu führt, dass Frauen und andere Minderheiten wegen etablierter Vorurteile und dem bekannten boys club Phänomen weniger Chancen haben, in eine solche Position zu kommen.  

Was bedeutet Diversität für dich in der Wissenschaft?  
Diversität ist nicht nur zum Beispiel auf dem sexuellen, gender oder ethnischen Level wichtigfür die Wissenschaft, sondern es geht beispielsweise auch darum, wie Leute sich verhalten können. Zum Beispiel muss es doch möglich sein, dass man eher schüchtern ist oder sich selbst nicht gut verkaufen kann, aber trotzdem als guter Wissenschaftler eine Karriere haben kann. Da müssen wir noch viel sensitiver für die intrinsische Diversität von Menschen werden. Aber ich sehe auch, dass unsere Generation eine der ersten ist, die den Menschen mehr erlaubt, wirklich sie selbst zu sein. Wir leben gerade in einer sehr interessanten Zeit, und ich hoffe, dass es bald Normalität wird, dass jeder so sein kann wie er möchte – und damit auch professionell erfolgreich sein kann.  

Es ist ja gar nicht so, dass es keine tollen, erfolgreichen Wissenschaftlerinnen gäbe. Sie sind häufig nur zu wenig sichtbar. Hilft dir die Auszeichnung als Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres in dieser Hinsicht eventuell weiter?  
Grundsätzlich bin ich Preisen gegenüber etwas skeptisch. Wenn ein Preis in der Wissenschaft an nur eine Person vergeben wird, wird komplett übersehen, dass da ein ganzes wissenschaftliches Netzwerk dahintersteht – und auch die komplette vorherige wissenschaftliche Arbeit, die von anderen Wissenschaftlern betrieben wurde und erst die Wissenschaft erlaubt hat, die ich jetzt gemacht habe. Und wenn wir es global betrachten, werden häufig ältere, weiße Professoren ausgezeichnet. Trotzdem habe ich gehofft, mit dem Preis ein bisschen Visibility zu bekommen, aber um diese Visibility dann auf die richtige Art und Weise zu nutzen. 

Wie denn und wofür?  
Um auf Missstände hinzuweisen, weil ich mich sehr engagieren möchte, um zum Beispiel Transparenz, Inklusivität und Equity in der Wissenschaft zu verbessern. Und hier geht es nicht nur um Männer und Frauen, sondern beispielsweise auch um ethnische Minderheiten oder Menschen aus gewissen sozialen und finanziellen Schichten. Viele Minderheiten haben leider immer noch keine Chance im deutschen Wissenschaftssystem, und da müssen wir dringend etwas ändern – aus ethischen Gründen, aber auch zu Gunsten unserer Wissenschaft und Gesellschaft. 

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